Recht auf „Vergessen werden“: Die Wahrheit als Datenschutzproblem

George Orwells Meisterwerk „1984“ wird von den Datenschutzbeauftragten dieses Landes und wohl auch von den Datenschutzbehörden anderer europäischer Länder oftmals bemüht, wenn es darum geht, den Gegner begreifbar werden zu lassen: Die Vision der Totalüberwachung ist es, die es um fast jeden Preis zu verhindern gilt. Der Einzelne soll Herr seiner Daten bleiben, der gläserne Mensch ist die Horrorvision. Mit seinem Urteil vom 13.5.2014 (Az.: C – 131/12) hat der Europäische Gerichtshof nunmehr allerdings einen ganz anderen Aspekt der Orwellschen Vorlage in greifbare Nähe gerückt: Die Datenschutzbehörden sind auf dem Weg dahin, zu Wahrheitsministerien zu werden.

Aber der Reihe nach. Bekanntermaßen hat der EuGH in der genannten Entscheidung in einem Vorabentscheidungsverfahren geklärt, dass ein Suchmaschinenbetreiber, der in seiner Ergebnisliste auf Seiten verlinkt, auf welchen personenbezogene Daten Dritter veröffentlicht sind, selbst Daten im Sinne der EU-Datenschutzrichtlinie verarbeitet und damit verantwortliche Stelle im Sinne der EU-Datenschutzrichtlinie ist. Dem entsprechend ist ein Suchmaschinenbetreiber unter bestimmten Umständen verpflichtet, auch solche Suchergebnisse aus seinen Ergebnislisten zu löschen, die auf den verlinkten Seiten durchaus rechtmäßig veröffentlicht werden.
Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Veröffentlichung in der Suchmaschine sozusagen eine eigenständige Persönlichkeitsrechtsverletzung darstellt, was sich aus „der bedeutenden Rolle des Internets und der Suchmaschinen in der modernen Gesellschaft” ergeben kann (Zitat aus der Pressemitteilung zu Urteil). Und das ist der Fall, wenn diese Informationen das „Recht auf vergessen Werden“ missachten, welches dem Betroffenen einen Anspruch darauf verschafft, dass auch ursprünglich rechtmäßig im Index enthaltenen Informationen nach einer gewissen Zeit nicht mehr an die Öffentlichkeit gezerrt werden.
Hintergrund der Entscheidung ist die Klage von sowohl der spanischen Google-Einheit als auch Google Inc. in den USA gegen Entscheidungen der spanischen Datenschutzbehörde „Agencia Española de Protección de Datos“ (AEPD).

Diese hatte Google auf Antrag eines spanischen Staatsbürgers angewiesen, bestimmte Suchergebnisse aus seinen Ergebnislisten zu löschen. Diese Suchergebnisse enthielten Links auf ein Tageszeitungsarchiv, in welchem Informationen über frühere Zwangsversteigerungsmaßnahmen gegen Grundstücke des Betroffenen enthalten waren.
Der Betroffene fühlte sich hierdurch in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, weil diese Dinge bereits fast 20 Jahre zurückliegen – das Erscheinen im Google Suchindex im Zusammenhang mit seinem Namen ihn aber hier und heute in seinem beruflichen Fortkommen behindern.

Kurz: Der Mann ist Freiberufler und hatte offenbar damit zu kämpfen, dass die über Google verlinkten Informationen von zukünftigen Geschäftspartnern als Maßstab für seine (fehlende) Bonität herangezogen werden. Er wollte sie daher weg haben.
Dabei war es nicht so, dass er sich allein gegen Google gewandt hätte, auch die eigentliche Veröffentlichung störte ihn. Nur in Bezug auf Google hatte ihm die AEPD allerdings Recht gegeben. Die eigentliche Veröffentlichung in der Tageszeitung „Vanguardia Ediciones“ hatte die AEPD nicht beanstandet.

Die entsprechenden Ergebnisse im Google-Index hingegen schon, und in dieser Einschätzung bestätigte der EuGH nun die AEPD. Mehr noch: als verantwortlich sieht der EuGH nicht nur die eigentliche Daten verarbeitende Stelle, Google.inc in den USA an, sondern auch die jeweilige nationale Einheit, in diesem Falle Google Spain.

Hierzu ist zu sagen, dass die jeweiligen nationalen Zweigstellen der großen amerikanischen Konzerne wie Google, aber auch Facebook und andere, sich in aller Regel nur mit Marketingfragen und Anzeigenverkauf befassen.  Demgemäß hatten zumindest deutsche Gerichte in der Vergangenheit regelmäßig eine Verantwortlichkeit der nationalen Zweigstellen dieser Konzerne für Persönlichkeitsrechts- aber auch Urheberrechtsverletzungen ihrer Mutterkonzerne verneint, was Betroffene regelmäßig in die etwas missliche Ausgangssituation brachte, die amerikanischen Mutterkonzerne in Deutschland verklagen zu müssen. Das war zwar nicht unmöglich, aber umständlich und auch mit Schwierigkeiten bei der Zwangsvollstreckung verbunden (Mehr dazu hier in einem Text von mir im ZDF-Hyperland). Solche Betroffene haben es nach dem gestrigen Urteil des EuGH leichter.

Überhaupt: Es werden ab heute sehr viele Menschen es sehr viel leichter haben, gegen Inhalte jeder Art in Suchmaschinen vorzugehen.

Denn mit der Entscheidung des EuGH, Google zur verantwortlichen Stelle zu machen, macht das Gericht das Datenschutzrecht gleichsam zu einer Waffe gegen missliebige Inhalte jeder Art.  Denn, wie das Gericht völlig richtig erkennt: Das (Nicht-)Vorhandensein einer Information im Google-Index entscheidet auch darüber, ob diese praktisch im weltweiten Datennetz verfügbar ist. Wenn Google aufgrund der bloßen Tatsache, dass auf verlinkten Seiten personenbezogene Daten vorgehalten werden, verpflichtet werden kann, die entsprechenden Ergebnisse aus seinem Suchindex zu löschen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten von kritischer Information Betroffenen sich genau diesen Hebel zu Nutze zu machen versuchen.

Die Vorstellung, dass sie dabei möglicherweise tatkräftige Hilfe von Seiten staatlicher Institutionen in Form der Datenschutzbehörden erhalten, finde offensichtlich nicht nur ich gruselig.
Um nicht missverstanden zu werden: mir ist die „Unabhängigkeit“ der Landes-Datenschutzbeauftragten, die dieses Wort nicht ohne Grund regelmäßig in ihrer Behördenbezeichnung führen, ebenso bekannt, wie die Tatsache, dass zum Beispiel das Schleswig- Holsteinische ULD diese eigene Unabhängigkeit tagtäglich unter Beweis stellt.

Trotzdem: Zur Inhaltskontrolle von Medienveröffentlichungen war weder das Datenschutzrecht je gedacht, noch sollte es eine Behörde geben, die ihre Aufgabe dahin missverstehen könnte.

In genau diese Richtung geht für mich aber das Urteil des EuGH, welches selbstverständlich auch durch nationale deutsche Gerichte bei der Auslegung nationalen Rechts im Geltungsbereich der Datenschutzrichtlinie zu beachten und zu befolgen ist.

Schlussendlich soll hier aber auch nicht unter den Tisch fallen, dass der EuGH natürlich nicht entschieden hat, dass eine Suchmaschine jede Verlinkung personenbezogener Daten im Suchindex zu unterlassen hat, soweit diese Information dem Betroffenen nicht passen. Ein Recht auf „vergessen werden“ bestehe nämlich dann nicht, wenn besondere Gründe vorliegen. Zum Beispiel die Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben, die ein überwiegendes Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu diesen Informationen über eine solche Suche rechtfertigen. Dabei ist jeweils eine Abwägung zwischen beiden Rechtspositionen vorgesehen.

Nun ja: so gesehen hat sich der Kläger möglicherweise ein Eigentor geschossen. Denn in den Veröffentlichungen zu dem hier besprochenen EuGH Urteil wird nicht nur sein vollständiger Name genannt,sondern es werden auch alle weiteren relevanten Informationen sogar in der Presseinformation zur Entscheidung veröffentlicht.
Man kann also durchaus fragen, ob der Kläger nicht damit wieder zu so einer „Person der Zeitgeschichte“ geworden ist, die eine Verlinkung der entsprechenden Informationen auch im Google Index rechtfertigt.

Jedenfalls dürfte er seinem Ziel, die bereits vor Jahren erledigten finanziellen Schwierigkeiten vor der Öffentlichkeit zu verbergen, nicht unbedingt näher gekommen sein…

Stephan Dirks

Stephan Dirks ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Urheberrecht & Medienrecht und Inhaber der Kanzlei DIRKS.LEGAL.

4 Gedanken zu „Recht auf „Vergessen werden“: Die Wahrheit als Datenschutzproblem

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