Das Stuttgarter Oberlandesgericht entscheidet voraussichtlich am 8. Juli in einer Angelegenheit, die das Zeug hat, es bis zum Bundesverfassungsgericht zu schaffen: Es geht dabei um das von Günter Wallraff zumindest mitbegründete Genre der früher so genannten „Betriebsreportage“. Heute heißt das gern auch „investigativer Journalismus“ und zu Leuten, die das Material für die Betriebsreportagen liefern, sagt man auch „Whistleblower“. Die bevorstehende Entscheidung in Sachen Daimler AG ./. Südwestrundfunk (SWR) nehmen wir zum Anlass, uns einmal die rechtlichen Rahmenbedingungen anzusehen, in denen so etwas stattfindet.
Ausgangspunkt: „ Hungerlohn am Fließband“
Der Fall, den nach dem Landgericht Stuttgart (zur dortigen erstinstanzlichen Entscheidung auch Jurafunk Nr. 118 vom 14.10.2014, ab Minute 1‘15“) nun in zweiter Instanz die Richter des Stuttgarter Oberlandesgerichts zu entscheiden haben, dreht sich um eine Reportage des SWR, die am 13.5.2013 ausgestrahlt wurde (und die zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags noch über YouTube abrufbar ist). Es geht dabei um einen Sachverhalt, der in der Reportage als „Moderne Sklaverei“ charakterisiert wird: Die Auslagerung einfacher Tätigkeiten in der Fertigung an Logistikunternehmen im Wege von Werkverträgen mit dem offenkundigen Ziel, Tarifverträge zu umgehen und Lohnkosten einzusparen.
Im Rahmen dieser Reportage wurden unter anderem Aufnahmen verwendet, die mit versteckter Kamera aufgenommen wurden. Dies wird durch den Journalisten Jürgen Rose zu Beginn auch ausdrücklich offengelegt. Rose hatte sich einen Job bei einem Personaldienstleister besorgt, war dann an eine Spedition „ausgeliehen“ worden, die wiederum für Daimler arbeitet. Auf diese Weise hatte er sich also dort eingeschlichen. Rose ist sich offensichtlich auch darüber bewusst, dass seine Recherchemethode heikel ist: Ausdrücklich weist er zu Beginn der Reportage darauf hin, dass mit Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte von Mitarbeitern einer Leiharbeitsfirma die Aufnahmen nur ohne Ton erfolgen sowie Bilder „anonymisiert“ werden.
„Die mit dem gelben Punkt gehen nach China“
Die verwendeten Aufnahmen selbst zeigen dann (scheinbar) Banales: Rose dokumentiert, wie er an seinem ersten Arbeitstag bei der Daimler AG seinen Fremdarbeiterausweis bekommt, es wird sein Arbeitsplatz gezeigt und seine Tätigkeit, die er gemeinsam mit Daimler AG-Mitarbeitern ausübt, nämlich das Verpacken von Zylinderköpfen in Kisten. Dabei sind, wie es Rose zuvor angekündigt hat, alle Dialoge nachgesprochen und alle Personen geblurrt, also: unkenntlich gemacht.
Die Daimler AG ist hiermit nicht einverstanden. Nach der Ausstrahlung verklagt die Firma den SWR auf Unterlassung der (erneuten) Ausstrahlung der entsprechenden Aufnahmen.
Der rechtliche Hintergrund
Um zu verstehen, welche Gesichtspunkte rechtlich eine Rolle spielen, muss man sich hier zunächst einmal klar machen, wessen rechtlich geschützte Interessen hier betroffen und welche das eigentlich sind. Wie gesagt, hatte Journalist Rose ja durchaus umsichtig gehandelt und diejenigen, die auf den Aufnahmen zu sehen waren, unkenntlich gemacht. Teilweise erhielten Sie auch Decknamen („Hans“), so dass hier Ansprüche aus dem Persönlichkeitsrecht ausscheiden. Allerdings bleibt noch immer die Daimler AG selbst als Betroffene(r). Ob die so etwas wie ein Persönlichkeitsrecht überhaupt haben kann, und wenn ja, ob dieses betroffen ist, darüber kann man streiten (und der Streit würde höchstwahrscheinlich damit enden, dass beide Fragen mit „Ja“ beantwortet werden). Was aber offensichtlich und auch unstreitig ist, ist das die Firma Daimler AG in ihren Werkhallen das so genannte Hausrecht ausübt. Und dieses recht bodenständige Recht, das sich aus dem Eigentum (§ 903 BGB) ergibt, wurde durch die Herstellung der Aufnahmen verletzt, denn einerseits wurde keine Genehmigung für die Dreharbeiten eingeholt und andererseits darf man auch vermuten, dass die Daimler AG diese auch nicht erteilt hätte. Darüber dürfte sich auch der SWR im Klaren sein.
So weit, so gut. Nur geht es vorliegend ja gar nicht darum, dass die Aufnahmen rechtswidrig hergestellt worden sind. Es geht allein um die Verbreitung dieser Aufnahmen, und für die gilt nicht unbedingt, was für die Herstellung gilt.
BILD ./. Wallraff
Rechtswidrig erlangt heißt also nicht immer rechtswidrig veröffentlicht. Das wissen wir spätestens seit dem Mann, der bei ‚BILD‘ Hans Esser war. Außerhalb der Redaktionsräume der Hannoveraner BILD-Zeitung war dieser Mann Günter Wallraff, und dieser Mann ist seit gut 40 Jahren die lebende Betriebsreportage.
Unter anderem hatte er sich in den 1970er Jahren als “freier Journalist” in die Redaktion der BILD-Zeitung geschlichen und seine dortigen Erlebnisse Buchform verarbeitet. Das wollte sich die BILD-Zeitung in Gestalt des Axel-Springer-Verlages nicht bieten lassen und wehrte sich über alle Instanzen gegen verschiedene Passagen des Wallraff’schen Werks. Nachdem der BGH bereits entschieden hatte – und zwar weit überwiegend im Sinne Wallraffs – musste sich das Bundesverfassungsgericht noch einmal mit der Frage befassen, ob der Bundesgerichtshof die Grundrechte des Springer –Verlages in Gestalt der Pressefreiheit verletzt hatte, als er seine Klagen abwies.
Dabei stellte das BVerfG diese Leitlinien auf:
Die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG gilt auch für rechtswidrig (oder auch unredlich z.B. durch Täuschung) erlangte Informationen. Dabei kann zwar die Art und Weise, wie eine Information veröffentlicht wurde, der Veröffentlichung entgegenstehen. Muss es aber nicht, es kommt auf den Einzelfall und hier auf eine Abwägung der Rechtspositionen an, die im konkreten Fall eine Rolle spielen. Hier also: Wallraffs Kommunikationsfreiheiten gegen die Pressefreiheit der „BILD“. Beides sind Grundrechte.
Dabei soll es nun auf zwei Gesichtspunkte maßgeblich ankommen: Mindestvoraussetzung für ein Erlaubtsein der Veröffentlichung rechtswidrig erlangter Informationen ist, dass diese gravierende Missstände offenbaren. Das klingt erst einmal wie nur ein einziger Gesichtspunkt, es sind aber tatsächlich zwei: Es muss also um „gravierende Missstände“ gehen, einerseits. Andererseits müssen diese durch die entsprechende Veröffentlichung „offenbart“ werden, darin drückt sich aus, dass die entsprechende Veröffentlichung auch notwendig gewesen sein muss, damit die die Missstände bekannt werden. Bereits bekannte Missstände kann man nicht “offenbaren”, seien sie auch noch so gravierend.
Um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: Mit diesem Kriterien hat es sich dann leider noch nicht. Denn abgesehen von dem griffigen Schema, kommt es darüber hinaus immer noch auf den Einzelfall an, konkret darauf, als wie starker Eingriff die entsprechende Veröffentlichung für den Betroffenen darstellt. Im Fall Wallraff ./. BILD schafften es insbesondere von Wallraff verwendete Gedächtnisprotokolle von Redaktionskonferenzen nicht, diese Hürde zu nehmen. Diesbezüglich sah das Bundesverfassungsgericht die Pressfreiheit der BILD-Zeitung in Form der besonders geschützten „Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit“ als besonders betroffen an, wohingegen der Erkenntnisgewinn durch die Veröffentlichung der entsprechenden (recht banalen) Interna kaum einen Erkenntnisgewinn brächte. Demgemäß fiel die Abwägung hier gegen Wallraff aus (Allerdings machte dieser Punkt nur einen geringen Teil der „Wallraff“-Entscheidung des BVerfG aus – in den anderen Punkten wurden die Verfassungsbeschwerden des Springer Verlages abgewiesen).
Cicero ./. BKA
Diese Linien schrieb das Bundesverfassungsgericht fort – und zwar auch dort, wo es um „Staats“-Geheimnisse ging. Wegweisend insoweit: Das so genannte „Cicero“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Hintergrund des Urteils: Ein Journalist dieses Blattes sowie der Chefredakteur sahen sich Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Potsdam ausgesetzt, weil sie für einen Text über den Terroristen Abu Musab az-Zarqawi aus einem streng geheimen Auswertungsbericht des Bundeskriminalamts berichteten. Im Zuge dieser Ermittlungen kam es zu Durchsuchungen unter anderem der Redaktionsräume von „Cicero“. Die hiergegen gerichteten Rechtsbehelfe waren vor den ordentlichen Gerichten erfolglos, und so landete die Sache schließlich vor dem Bundesverfassungsgericht. Das wiederum gab den Verfassungsbeschwerden statt: Die Pressefreiheit umfasse auch den Schutz vor dem Eindringen des Staates in die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit sowie die Vertrauenssphäre zwischen den Medien und ihren Informanten. Kurz gesagt, habe auch hier eine entsprechende Abwägung stattzufinden, die im konkreten Fall zu Gunsten der Pressefreiheit ausfiel.
Speer ./. BILD
Das letzte Urteil in unserer kurzen Entscheidungsübersicht betrifft die Veröffentlichung im doppelten Sinn „gestohlener“ E-Mails. Es schließt sich hier ein Kreis, denn ironischer Weise ist es dieses Mal die BILD-Zeitung in Gestalt des Springer-Verlags, die sich gegen das Verbot einer Veröffentlichung mit genau den Argumenten wehrte, die sie in Sachen „Wallraff“ noch bekämpft hatte.
Hintergrund waren vertrauliche E-Mails des SPD-Politikers Speer, die sich auf dessen Laptop befunden hatten, welcher unangenehmer weise gestohlen worden war. Aus diesen ergab sich, dass Speer den Unterhaltspflichten hinsichtlich eines Kindes aus einer früheren Beziehung nicht nachkam. Diese E-Mails wurden der BILD zugespielt, die sie dann veröffentlichte. Auch hierin sah der Bundesgerichtshof (Urt. v. 30.9.2014, Az. VI ZR 490/12) die „Offenbarung eines erheblichen Missstandes, an dessen Aufdeckung ein überragendes öffentliches Interesse besteht“ – Denn der Betroffene war Minister und Landtagsabgeordneter. Dementsprechend hatte sein Persönlichkeitsrecht, das ohne Zweifel von der Veröffentlichung stark betroffen war, zurückzutreten.
Zurück zur anstehenden Entscheidung in Stuttgart: Wie wird das Gericht die Sache sehen?
Wir haben an den oben aufgeführten Entscheidungen bereits gesehen, dass es sehr stark auf den Einzelfall ankommt, und sich „jede schematische Lösung verbietet“, wie der BGH es an anderer Stelle so schön formuliert hat. Für eine Prognose müssen wir uns „Hungerlohn am Fließband“ also noch einmal etwas näher ansehen:
- Die Aufnahmen innerhalb der Werkhallen zeigen, wie gesagt, im Wesentlichen, wie Reporter Rose mit seinen Kollegen der Daimler AG Zylinderköpfe in eine Kiste räumt. Hier kann man an der Aufdeckung eines Missstandes zweifeln: Denn dass die Daimler AG Leiharbeiter im Rahmen von Werkverträgen einsetzt, mag man als Missstand ansehen, dieser war allerdings vorbekannt und konnte durch die Aufnahmen kaum „offenbart“ werden (denn ansonsten hätte Rose auch überhaupt keinen Anlass gehabt, sich „einzuschleusen“).
- Allerdings: Die Aufnahmen zeigen (und beweisen) unter anderem auch, dass Rose als Werkvertrags-Leih-Arbeiter nicht nur dieselben Tätigkeiten wie solche Arbeiter verrichtet, die bei Daimler AG fest angestellt sind und nach Tarif bezahlt werden. Er erscheint auch als fest in die Belegschaft integriert und erhält seine Arbeitsanweisungen direkt von einem Daimler AG-Mitarbeiter. Diese Aufnahmen werden sodann dem Arbeitsmarktforscher Prof. Sell vorgelegt, der die gezeigten Sachverhalte in der Sendung als rechtswidrig einstuft. Hier findet also durchaus die „Offenbarung“ eines „erheblichen Missstandes“ („unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung“) statt, zu dessen Aufdeckung die Aufnahmen auch durchaus notwendig erscheinen. Dass man die Frage der „unerlaubten Arbeitnehmerüberlassung“ möglicherweise auch anders sehen kann, dürfte hieran kaum etwas ändern.
- Auf der anderen Seite – Abwägung! – ist festzuhalten, dass Rose die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten, vor allem der Beteiligten Daimler AG Mitarbeiter schonte, indem er sie komplett und nachhaltig unkenntlich machte. Auch (technische) Betriebsgeheimnisse oder andere, „themenfremde“ Interna kommen nicht vor.
Man mag nun noch darüber streiten, ob es zur Erreichung des Aufdeckungszwecks wirklich notwendig gewesen ist, die Aufnahmen selbst öffentlich zu machen, oder ob es nicht auch ausgereicht hätte, über sie zu berichten und beispielsweise den Professor nur sein Ergebnis vortragen zu lassen.
Im Ergebnis würde dies aber bedeuten, dass ein Gericht redaktionelle und rein journalistische Entscheidungen bis ins Detail vorgibt, was nun ebenfalls mit den Medienfreiheiten kaum vereinbar wäre. Und tatsächlich kommt der Fassungslosigkeit des Experten ja durchaus ein eigener Erkenntniswert zu.
Auch das OLG Stuttgart wird also – das hat es auch bereits angedeutet – wohl im Sinne der Kommunikationsfreiheiten entscheiden, und auch von weiteren, mit der Sache möglicherweise befassen Gerichten, dem BGH und dem Bundesverfassungsgericht, wird die Sache wohl nicht anders beurteilt werden.
Darüber mag man sich dann freuen – denn die genannten Grundsätze gelten ja nicht nur für Mainstream-Medien und öffentlich-rechtliche Rundfunksender sondern prinzipiell auch für jeden Blogger, soweit seine Inhalte ein entsprechendes öffentliches Interesse hergeben.
Wehrmutstropfen allerdings: Die rechtlichen die Grate, auf denen derartige Recherchemethoden sich bewegen, sind so schmal, dass man das Prozesskostenrisiko besser mit einpreist, will man sich mit großen Unternehmen anlegen.
Update:
Das Gericht hat heute (8.7.15) wie erwartet zu Gunsten des SWR entschieden (Link zur PM des Gerichts). Eine Revision zum BGH wurde nicht zugelassen, so dass nur noch eine Nichtzulassungsbeschwerde bleibt, um das Urteil anzufechten.
Ein Gedanke zu „Auf Wallraffs Spuren: Was dürfen Whistleblower? (Update)“